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Kaum Fragen werden drängender und auch häufiger im öffentlichen Diskurs gestellt als die Fragen nach Verantwortung und Schuld. Das ist nicht nur in Zeiten anhaltender Krisen, wie in einer Pandemie so der Fall. Der Mensch und damit auch die Öffentlichkeit wollen stets bei jedem Fehler auf möglichst schnellstem Wege einen oder eine Verantwortliche dafür präsentiert zu bekommen.

Und an sich ist diese Frage auch legitim – denn natürlich sind die meisten Desaster aus durch von Menschen getroffene Entscheidungen entstanden – jedoch ist diese auch aus ethischer Perspektive ohnehin höchst komplexe Fragestellung keineswegs übereilt zu beantworten.

Dennoch haben es die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahren und Jahrzehnten inzwischen ganz gut geschafft durch die Entwicklung gut funktionierender Analyse- Methoden und die Einrichtung von Institutionen zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Abläufe und Zusammenhänge, wie etwa Ethik-Räte und auch die Presse gehört, Prozesse die in einem gesellschaftlichen ‚Regelbetrieb‘ ablaufen, nach Fehlern abzusuchen und die dafür verantwortlichen Personen und Stellen auszumachen. Eine Pandemie, wie wir sie bspw. 2020/21 und vermutlich auch noch eine Zeit im Jahr 2022 erlebt haben / erleben werden, aber stellt hierfür ganz neue Herausforderungen dar, denn sowohl die Ethik als auch der gesamtgesellschaftliche Diskurs sind eher kurz anhaltende und relativ schnell endende, sowie weniger umfangreiche Krisen gewohnt. So haben die letzten Wirtschaftskrisen allein sogar weniger Auswirkungen und komplexe Verstrickungen mit dem gesellschaftlichen Leben aufzeigen können, als das eine Pandemie tut. Oder auch an den Diskursen zu den heute sich als wahnsinnig komplex darstellenden internationalen Auseinandersetzungen und Kriegen zeigen sich häufig übereilte Antworten auf diese Fragen nach Schuld und Verantwortung als fatal. Dabei ist die Komplexität einer pandemischen Situation sogar um einiges noch höher als die solcher zeitgenössischen Kriege und Internationaler Krisen. Dementsprechend ist auch die Frage nach Verantwortung in dieser Pandemie wesentlich schwerer.

1 – Theoretische Grundlagen

Zunächst aber einmal zuallererst sollte hierzu der Terminus der Verantwortung genauer definiert werden. Im ethischen Sinne kann Verantwortung, ganz gemäß dem Ethiker Hans-Richard Reuter von der Universität Münster, v.a. ganz verschiedene Bedeutungen haben.vgl. Reuter, Hans-Richard: Verantwortung, in: Anselm, Reiner (Hg.) / Körtner, Ulrich H.J. (Hg.), Evangelische Ethik kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015, S. 180f. Hier aber soll nun eher der ethische Horizont der Verantwortung untersucht werden.

Alle einzelnen Verantwortungstypen allerdings lassen sich durch eine ihnen gemeinsame Grunddefinition der Verantwortung kennzeichnen. Denn Verantwortung im klassischen Sinne meint immer die Rechenschaft eines Handelnden vor einer rechtlichen oder auch moralischen Instanz.vgl. Reuter, Verantwortung [2015] Dabei können verschiedene moralische Instanzen diese Rechenschaftsabnahme darstellen. Im theologisch-abrahamitischen Sinne stellt dies hier zumeist der Richterstuhl des Schöpfergottes dar. Aber natürlich können sowohl das Gewissen als auch ein soziologisch-gesamtgesellschaftlicher Wertekanon und die Gesellschaft selbst als Hüter und Richter nach diesem Kanon diese moralische Instanz der Rechenschaftseinforderung einnehmen.

Nun noch zum Begriff der Schuld: Schuld und Verantwortung haben beide in der Ethik die gleichen Grundannahmen gemein: Nämlich, dass der Mensch stets frei wählen kann, wie er denn handelt. Ohne Freiheit keine Verantwortung.vgl. Huber, Wolfgang: Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, München 2012, S. 74.
Verantwortung fragt nicht nur nach dem personalen Grund einer Handlungvgl. Henke, Roland W.: Schuld, in: Rehfus, Wulff D. (Hg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2003, zit. nach: Andersson, K., Arbeitsblatt moralische und rechtliche Schuld, Stuttgart 2015 (PDF-Dokument: https://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/ab_695325_e59z4i_ schuld.pdf), letzter Aufruf: 29.10.21, 22:37., wie das die Schuldfrage tut, sondern möchte die/den Schuldige*n auch gleich zur Rechenschaft ziehen.

Sowohl für die Schuld als auch für die Verantwortung ist die Absicht des Handelnden wichtig: Denn ergeben Handlungen schlechte Ergebnisse aus nicht vorhersehbaren Gegebenheiten, wurde dieses negativen Ergebnisse also unwissentlich und auch nicht fahrlässig in Kauf genommen, so kann von Schuld zumindest keine Rede sein. Und auch die Verantwortung dafür ist hier nicht gegeben.

All diese Differenzierungen und Unterscheidungen sind in der Corona-Pandemie von größter Bedeutung.

2 – Herausforderungen bei der Schuldfrage

Generell lassen sich zur Coronapandemie viele Schuldfragen stellen. Einige wenige davon können sein, die Frage nach der Schuld an der Pandemie an sich, die Frage nach der Schuld an den zahlreichen Toten, die Frage nach der Schuld an weiteren Folgeschäden der Pandemie. Eigentlich ist aber völlig gleichgültig, wie genau die Schuldfrage lautet, denn die grundlegenden Herausforderungen, auf die diese Fragen stoßen sind ihnen allen gleich.

Die Coronapandemie war und ist eine Krise kaum überblickbaren Ausmaßes. Und genau das macht auch jedwede Schuldfragen deutlich komplizierter. Natürlich ist es keine Neuheit, dass die heutigen Gesellschaften an so großer Komplexität gewonnen haben, dass man kaum mehr die inner-gesellschaftlichen Zusammenhängen überblicken kann. Aber dennoch, obwohl dies keine Neuheit ist, hat sich die vergangene Ethik meist auf eine sehr einfache Güterabwägung konzentriert: so sind die Gedanken-Experimente üblich gewesen, bei denen zwischen zwei Handlungen mit unmittelbaren Folgen gewählt werden muss. Beispielsweise beim Trolley- Problem, bei dem stets nur zwei Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, deren Ausgang man in unmittelbarer Nähe zur Entscheidung nachvollziehen kann.

Dies war nun auf einmal in der Komplexität der pandemischen Situation nicht mehr gegeben: Entscheidungen, die im Herbst getroffen wurden, konnten den Infektionsverlauf des Winters sowie des gesamten Frühjahrs deutlich beeinflussen. Und damit natürlich auch die Opferzahlen. Ein unmittelbares actio-reactio-Modell konnte hier ohne weiteres und absehbar nicht angewandt werden. Vielmehr mussten beispielsweise Infektionsschutzmaßnahmen werden: nicht selten erließen die Regierungschefs mehrere Infektionsschutz-Verordnungen in kurzer Zeit direkt hintereinander, da sich die letzte Verordnung als nicht effektiv genug herausstellte. Er ist eher von einer Trial-and-Error-Methodik zu reden, die aber keineswegs freiwillig gewählt, sondern von der Situation an sich erfordert wurde.

Eine klare Schuldzuweisung ist damit also nicht möglich, da die negativen Folgen nur selten wissentlich in Kauf genommen wurden.

Aber nicht nur die Rolle der Regierung und damit die Politik ist in den Schuldfragen zur Coronapandemie genauer zu beleuchten. In kaum einer Krise, war das Handeln des Einzelnen so ausschlaggebend, wie während der Pandemie. So konnte die Pandemie unmöglich alleine durch Erlässe der Regierungen effektiv unter Kontrolle gebracht werden. Hier war immer – und das wurde von Virologen auch immer wieder betont – die Mithilfe aller Bürger notwendig. Natürlich hatte die Regierung dennoch als Instanz der Organisation und Ordnung eine besondere Rolle inne, die ihr damit auch automatisch, eine besondere Schuldfähigkeit und Verantwortung einräumt, soweit man trotz allen Vorbehalten den einzelnen Instanzen der Gesellschaft eine Schuldfähigkeit und Verantwortung zumessen kann. Trotzdem aber lässt sich feststellen, dass in dieser Form der Krise die Partikularschuld sich so kleinteilig verteilen lässt, dass eine wirkliche Nachvollziehbarkeit dieser Verteilung nicht mehr gegeben sein kann.

Ein weiterer Punkt, der Schulzuweisungen jedweder Art erheblich erschwert, ist die Unsicherheit über die jeweilige Datenlage, wobei hier erneut deutlich differenziert werden muss zwischen einer unsicheren Datenlage aufgrund fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse und der unsicheren Datenlage aufgrund von unvollständiger Datenerfassung. So ist eine unsichere Datenlage aufgrund von Kommunikationsfehlern und -schwierigkeiten der Gesundheitsbehörden untereinander, wo vermeidbar, natürlich deutlich dem Schuldbereich der jeweiligen Behörden zuzurechnen, wohingegen niemand Schuld daran tragen kann, dass etwa zu Beginn der Pandemie noch nicht viele Details über diesen wohlgemerkt neuartigen Virus bekannt waren.

3 – Die Verantwortungsfrage

In einem unterscheiden sich Verantwortung und Schuld deutlich: Die Schuld liegt stets in der Vergangenheit und wird immer erst retrospektiv zugeordnet, Verantwortung trägt die / der Schuldige in der Gegenwart oder spätestens in der Zukunft. Also wird die Möglichkeit der Verantwortung notwendigerweise durch eine zu tilgende Schuld bedingt.

Dennoch ist es zu kurz gedacht, eine Verantwortbarkeit aufgrund einer nur schwer feststellbaren Schuld von vorneherein zu negieren, obwohl im Falle der Corona-

Pandemie wohl nur bei besonders großer Schuld die jeweils Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden können und werden.
Sehen wir uns beispielsweise das teilweise desaströse Infektionsgeschehen in Brasilien an. Dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro lassen sich aus epidemiologischer Perspektive eine Vielzahl falscher Entscheidungen vorwerfen. Und damit trägt er eine erhebliche Schuld an den zahlreichen Toten, die Brasilien zu betrauern hat. Und genau für diese Schuld sollte Bolsonaro auch zur Verantwortung gezogen werden. Dennoch wäre es hier zu einfach, von einer alleinigen Schuld Bolsonaros zu sprechen. Und auch der in der Ethik inzwischen, v.a. im Umgang mit der Schuldfrage in Diktaturen, gängige Begriff der Kollektivschuld ist hier nicht differenziert genug, da hier die Schuld des Kollektivs nicht stets die gleiche Schuld ist, wie das sich in so mancher Diktatur behaupten lässt. Nicht nur haben die Bürger Brasiliens sich nicht gegen einen Sturz etwa eines Unrechtsregimes entschieden, sondern sie haben sich in einer Vielzahl ganz individueller und einzelner, meist unabhängig voneinander Entscheidungen wohl gegen die Eindämmung der Infektion entschieden. Oder andersherum: Die Bürger Brasiliens haben sich wohl Tag für Tag immer wieder und bei den verschiedensten Angelegenheiten nicht für den Infektionsschutz gewandt. Natürlich ist es gerade in den brasilianischen Armenvierteln (Favelas) höchst fraglich, wie frei sich die dortigen Bewohner in ihrem Verhalten entscheiden konnten bzw. muss man diese Freiheit in der Wahl ihrer Handlung sogar eher negieren, waren sie dennoch gezwungen sich um ihr tägliches Überleben zu kümmern, doch lässt sich all denen, die sich frei etwa zwischen dem Home-Office und dem Arbeiten vor Ort entscheiden konnten, eine gewisse Partikularschuld zuweisen, sofern sie damit zu einem Anstieg der Infektions- und damit der Todesrate und am Ende sogar zur Entstehung einer neuen gefährlichen Coronamutante beigetragen haben.

Und natürlich ist Brasilien hier nur ein Beispiel von vielen. Viel eher lassen sich die an Brasilien erörterten Besonderheiten der Schuldfrage in der Angelegenheit eines jeden Hotspots in der gleichen Gestalt bemerken.

Schuld lässt sich folglich in der Corona-Pandemie in vielen Angelegenheiten sehr schwer feststellen, was damit auch die Zuordnung zu tragender Verantwortung nahezu unmöglich macht. Aber dennoch, gehen wir einmal von einem fiktiven Hotspot-Gebiet aus, in dem die Infektionsraten stets nur so hoch gehalten wurden, weil sich die Bewohner dort frei gegen eine Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen entschieden haben, so kann man davon sprechen, dass wohl jeder Einzelne von Ihnen eine Schuld an den Folgen der hohen Infektionszahlen trägt. Dennoch Verantwortung im Sinne einer Tilgung ihrer Schuld, können nicht alle von Ihnen tragen.

Hier wird wohl einzig möglich sein, dass die jeweilige Ordnungsinstitutionen, wie etwa das Polizei und Behörden sein können, die eine solche Entwicklung nicht verhindert haben, zur Verantwortung gezogen werden, da hier auch die Gesellschaft des jeweiligen Hot Spots als solche beispielsweise nicht zur Rechenschaft gezogen werden könnte, da ja jeder Einzelne die Entscheidungen seiner Handlung getroffen hat.

Kurz gesagt und salopp formuliert, würde es, im Falle man wolle jeden Schuldigen auch etwa juristisch zur Verantwortung ziehen, den Rahmen deutlich sprengen.

4 – Folgerungen

Warum aber ist es diese Fragestellung eine Erörterung wert? Prinzipiell ist bereits von ähnlichen Fällen, in denen kollektive Schuld aufgeladen wurde, bekannt, Dass dort kaum ein Bürger zumindest weltlich Verantwortung tragen muss. Man denke hierbei nur an die Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus.

Dennoch wichtig sind solche Fragen für die Ethik, wenn es darum geht, Verantwortung im ethisch-moralischen Sinne zu erfassen, um sich dann vor ethischen Instanzen zu verantworten. Seien das weltliche Instanzen, wie das menschliche Gewissen, die Gesellschaft als Instanz oder auch religiöse Instanzen, wie das Gericht eines Schöpfergottes, denn Verantwortung vor einer solchen nicht-juristischen Instanz muss jeder tragen, egal wie umsetzbar das organisatorisch ist, da diese Instanzen ja nicht auf unsere menschlich-bürokratische Aufarbeitung angewiesen sind. So muss sich bspw. jeder Schuldige selbst vor seinem eigenen Gewissen verantworten.

Von den Gesichtspunkten der Ethik als Wissenschaft können nur anhand von Modellen exemplarisch die Schuld- und Verantwortungspflicht diskutiert und festgestellt werden.
Was aber können solche Überlegungen praktisch bringen? Es ist wohl davon auszugehen, dass die klare Deklarierung eines schuldhaften und verantwortungspflichtigen Verhaltens Menschen in zukünftigen ähnlichen Situationen zwar weniger normativ, aber in Angelegenheiten der Orientierung durchaus ein Maßstab zum richtigen Handeln sein können. Nicht nur, aber auch deshalb diskutieren Ethiker ja meist schon lange vor dem Eintreten diverser Situationen deren ethische Bewertung. Bspw. bei der Frage um den assistierten Suizid, geht es letzlich ebenfalls um die Frage nach der Schuld dessen, der dem Sterbewilligen das Sterben erleichtert. Zwar auch im juristischen Sinne, aber eben das nicht nur allein.

Die Herausforderungen, wie auch u.a. die oben gennannten Schwierigkeiten bei der Zuweisung von Schuld und Veranwortung, der Pandemie-Zeit haben relativ deutlich gezeigt, wie notwendig diese für unsere ethischen Diskussionen noch relativ neue Situation einer dermaßen langanhaltenden und komplexen Krisensituation, einer ethischen Reflexion bedürfen.

Fast kann man sagen, braucht die Ethik eine neue Teildisziplin: Neben der Krisenethik, braucht es wohl fortan auch eine Ethik der länger anhaltenden Krisen. Denn diese Pandemie war wohl, wenn man den Medizinern glauben darf, erst der Anfang.

Literatur:

Henke, Roland W.: Schuld, in: Rehfus, Wulff D. (Hg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2003, zit. nach: Andersson, K., Arbeitsblatt moralische und rechtliche Schuld, Stuttgart 2015 (PDF-Dokument: https://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/ab_695325_e59z4i_schuld.pdf), letzter Aufruf: 29.10.21, 22:37.

Huber, Wolfgang: Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, München 2012.

Reuter, Hans-Richard: Verantwortung, in: Anselm, Reiner (Hg.) / Körtner, Ulrich H.J. (Hg.): Evangelische Ethik kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015.

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